Hier wollen
wir der Frage nachgehen, wie sich schamanische
Bewusstseinszustände in das von Ken Wilber entwickelte Klassifikationsschema
(siehe Teil 4) einordnen lassen.
Es gibt zahlreiche
Hinweise, dass schamanische Reisen in vielen
Kulturen während der Nachtstunden durchgeführt werden, da die dabei auftretenden inneren Bilder
während des Tages zu
schwach sein können. In der Dunkelheit würden komplexe Welten,
Lichter, Töne und Bildvorstellungen leichter auftreten und Begegnungen mit
archetypischen Gestalten häufiger sein.
Das alles
korreliert mit der Ebene der
‚subtilen Erfahrungen’. Wilber vermutet deshalb, dass die
Schamanen die ersten Menschen waren, die sich Zutritt zur 'subtilen Ebene'
verschafft haben.
Sämtliche
Erfahrungen
auf der subtilen Ebene werden in veränderten Bewusstseinszuständen
gemacht, die durch vermehrte Sensibilität für inneres Erleben gekennzeichnet
sind. Die Objekte der Aufmerksamkeit sind auf dieser Ebene wirklich
feinstofflich und können daher nur im empfänglichen Zustand ausgemacht
werden. Normale Fantasievorstellungen
sind demgegenüber verhältnismäßig intensiv und leichter wahrnehmbar.
Das Spektrum subtiler Erfahrungen
übersteigt die Bandbreite normaler Fantasien
bei weitem. Fremde Welten und Universen können sich auf der subtilen Ebene auftun.
Auf dieser Erfahrungs-Ebene ist die Wahrscheinlichkeit
höher, dass man spirituell
bedeutsame Bilder wahrnimmt und archetypischen Figuren (Weisen, Geistern,
Krafttieren, Elfen, Kobolden und anderen Elementargeistern) begegnet.
Im Gegensatz dazu hat
die Fantasie bei normalen Tagträumen meist Alltägliches zum Inhalt.
Der
Schamane gilt als der erste Meister des subtilen Bereiches. Seine Spezialität
war und ist die ‚Seelenreise’, bei der er die Fesseln des Körperlichen
vorübergehend abwirft. Als freie Seele bereist er unterschiedliche subtile
Reiche, besänftigt deren Bewohner und bezieht konkrete Informationen von der
'Anderen Seite' - dh von der subtilen Ebene - hinsichtlich der Probleme von
Hilfesuchenden, die ihn deshalb aufsuchen.
Der Schamane,
der sich normalerweise als freie Seele, als von anderen Welten und Wesen
getrennt erlebt, vereinigt sich manchmal auch mit den Geistern, die ihm
begegnen. Wie erwähnt, sehen wir das auf Bali in der Séance des Balian Taksu,
wenn der angerufene Geist (Taksu) in veränderter Stimmlage aus dem Munde der
Schamanin zu den Anwesenden spricht.
Auch im
Yoga, im Tantra, in der christlichen Mystik und in der buddhistischen
Vipassana Meditation kann das Gefühl, ein abgegrenztes Individuum zu sein,
aufgehen in einem Verschmelzungsgefühl. Dabei handelt es sich aber nicht um
das Empfinden des Eins-Werdens mit anderen Wesen oder
Geistern wie beim Schamanen auf der subtilen Ebene, sondern um das Eins-Werden
mit dem gesamten Universum oder mit Gott.
In den oberen
Regionen der subtilen Ebene kommt es ganz offensichtlich zu Formen der unio mystica,
dh zu der von den Mystikern inbrünstig angestrebten mystischen Verschmelzung.
Kommt die unio mystica auch bei Schamanen vor?
Ich habe in der
einschlägigen Literatur keinen
Hinweis darauf gefunden. Dennoch habe ich in meiner Artikelserie über die
Zirbeldrüse vermutet, dass die Epiphyse (Drittes Auge) sowie jene
Gehirnregion, welche die Taoisten den 'Kristallpalast' nennen,
nicht nur bei Erleuchtungszuständen
bestimmter Traditionen eine Schlüsselstellung einnehmen, sondern auch für
den Schamanismus von Bedeutung sind.
Lies dazu die Artikelserie 'Die
Zirbeldrüse Teil 1 bis 4' >>>
Im Zuge meiner Recherchen zur
gegenständlichen Serie, las ich die Bemerkung eines
Sachkundigen,
der zu unserer Frage meinte: ‚Die mystische Vereinigung mit der Gottheit, die
für mystische
Erfahrungen so typisch ist, findet sich nie“. Er schließt daher, dass der
Schamanismus nur dann zur Mystik gerechnet werden könne, wenn unter dem
Begriff Mystik
nicht die ‚unio mystica’ verstanden wird.
Drei Argumente
sprechen gegen diese Schlussfolgerung:
1. der
Schamanismus ist eine mündliche Tradition; 2. im Schamanismus können
hochwirksame Drogen zum
Einsatz kommen und 3. Berichte betreffend mystische Erfahrungen von Personen,
die im Westen in schamanischen Techniken ausgebildet wurden.
ad 1. Da
der
Schamanismus für lange Zeit mündlich tradiert wurde, ist anzunehmen, dass mystische
Erfahrungen der Verschmelzung gelegentlich aufgetreten sind, ohne dass spätere
Generationen davon erfuhren. Mangels Schriftkultur gab es schlechterdings keine
Möglichkeit, solche seltenen Augenblicke
zu überliefern.
ad 2. In
einigen schamanischen Kulturen spielen auch heute noch bestimmte Drogen eine
nicht unbedeutende Rolle. Peyote und Ayahuasca sind psychedelisch wirkende
Substanzen. Diese können Erfahrungen hervorrufen, die von manchen
als echte mystische Erlebnisse erachtet werden.
ad 3. Menschen
aus dem Westen, die in schamanischen Praktiken ausgebildete wurden, berichten
gelegentlich von ihren mystischen Erfahrungen. Dabei handelt es sich aber weniger um
die Vereinigung mit einer Gottheit, sondern mit dem Universum.
Es sieht so aus, als ob es mehrere Arten der unio mystica gäbe. Die Vereinigung mit dem Kosmos
kann als oberste Maxime der Naturmystik betrachtet werden,
und jene mit Gott als eine solche der theistischen Mystik.
Vorläufige Antwort auf
unsere Frage
Sicher ist, dass die mystische Erfahrung
nicht Ziel des Schamanismus ist. Dennoch könnte sie gelegentlich gemacht
worden sein. Es ist naheliegend,
dass manche Schamanen über das eigentliche Ziel des Schamanismus
hinausschießen. Dabei verlassen sie die subtile Ebene
der Erfahrung und steigen bis zur kausalen oder sogar bis zur absoluten auf.
In jeder religiösen Tradition finden sich
auch Praktizierende, die in Bewusstseinsregionen vorgedrungen sind, auf die
ihre eigene Tradition nicht abzielt. Auch die in bestimmten schamanischen
Kulturen verwendeten Psychedelika können den Zugang zu kausalen und
absoluten Erfahrungen erschließen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass
sich die schamanische Trance
im subtilen Erfahrungsbereich vollzieht. Dennoch könnten einige Schamanen die
kausale bzw. absolute
Ebene erreicht haben.
Unabhängig davon, wie viele Schamanen den
Höheflug in die oberen Regionen der Erfahrungswelt geschafft haben, waren und
sind sie die ersten Vertreter der Menschheit, welche die Fesseln des
Körperlichen abgeworfen haben und die ersten die ihren Geist in
transpersonale Dimensionen zu projizieren vermochten.
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